Nachlese 2021
5 Komplexe Baubetriebssysteme – Eine Nachlese zum Online-Kolloquium „Zukunftsfragen des Baubetriebs“ vom 18.05.2021
Das zweite Kolloquium „Zukunftsfragen des Baubetriebs“ fand mit pandemiebedingter einjähriger Verspätung am 18.05.2021 im Kuppelsaal der TU Wien statt. Professor Gerald Goger begrüßte die Anwesenden sowie die rund 150 Online-Teilnehmer und eröffnete die Veranstaltung mit einem Zitat von Victor Hugo: „Die Zukunft hat viele Namen: Für Schwache ist sie das Unerreichbare, für die Furchtsamen das Unbekannte und für die Mutigen die Chance“, und ließ den Appell folgen, zu letzterer Gruppe, den Mutigen, zu gehören. Die anwesende Rektorin Sabine Seidler betonte die Wichtigkeit von Digitalisierung als Treiber für interne Vernetzung und als Werkzeug zur Unterstützung, jedoch niemals als Selbstzweck. Mit ihr würden virtuelle Brücken gebaut werden können, die sich über weite Bereiche spannen. Dekan der Fakultät für Bauingenieurwesen, Ronald Blab hob Digitalisierung als Lösung für komplexe oder gar chaotische Systeme hervor, da diese mit den heutigen Speicher- und Prozessorleistungen simuliert und visualisiert werden können. Er begrüßte das Kolloquium als Chance, um bereits erforschten Technologien zum Einzug in die Baubranche zu verhelfen.
Anschließend kündigte der Moderator des Vormittags Dr. Leopold Winkler den Keynote-Speaker an: Prof. Timo Hartmann, der von der TU Berlin zugeschaltet wurde. Im Eröffnungsvortrag bemängelte Prof. Hartmann die zu langsam fortschreitende Digitalisierung als Bremse für LEAN Methoden. Ein großer Teil von „management waste“ würde durch einen in Echtzeit upgedateten, digitalen Zwilling vermieden werden können, da hierdurch jederzeit sämtliche Informationen für alle auf der Baustelle verfügbar wären. Durch das Konzept „power to workflow“ sollen ausführende Arbeiter selber ermächtigt werden, Entscheidungen zu treffen.
Der nächste Block widmete sich dem Thema Künstliche Intelligenz. Prof. Allan Hanbury erörterte die Stärken und Schwächen von KI. Im Kern gehe es um „die Erforschung der Frage, wie man Computer dazu bringen kann, Dinge zu tun, bei denen Menschen im Moment besser sind“. KI funktioniert gut bei klar definierten Problemen mit einer abgegrenzten Menge an Entscheidungsmöglichkeiten. Deswegen ist sie uns Menschen bei Strategiespielen wie Schach und inzwischen auch GO überlegen, in anderen Feldern wird sie den Menschen jedoch nicht so schnell ersetzen. Im Forschungsprojekt „BRISE“ wird KI beispielsweise eingesetzt, um Einreichdokumente auf Unterschriften zu scannen und automatisch Diskrepanzen zwischen Einreichplänen und der Wiener Bauordnung aufzuzeigen. Der verwendete Algorithmus bedient sich deontischer Logik, die zwischen „geboten“, „verboten“ und „erlaubt“ unterscheidet.
Anschließend führte Prof. Peter Filzmoser diverse Methoden aus, um den Einfluss schlechter Datenqualität auf Machine Learning zu minimieren. Durch robuste Statistik werden Ausreißer in den Datensätzen erkannt und nicht berücksichtigt. Dies kann die Qualität der Schlussfolgerungen dahingehend verbessern, dass sie dem Trend des Hauptteils der Daten entsprechen. Robuste Statistik stellt im Gegensatz zu Random Forest und Support Vector Machines ein „white box“-Modell dar, wodurch der Output einfacher zu interpretieren ist. Filzmoser schloss seinen Vortrag mit einer Abänderung des in der Statistik geläufigen Stehsatzes „Garbage in – Garbage out“ (GIGO) zu „Valuable in, Precious out“ (VIPO) ab.
Weiter ging es im Block Datenketten mit einem Vortrag von Ing. Christian Hellerschmid von der PORR AG über Digitale Geschäfts- und Baustellenprozesse. Er referierte über diverse Digitalisierungsansätze in seinem Bauunternehmen, darunter digitale Geländemodelle, die, sobald sie einmal eingemessen wurden, weitere Vermessungen ersparen und über selbstfahrende Baumaschinen, die exakter und sauberer arbeiten, als der erfahrenste Baggerfahrer. Er sprach sich für eine Digitalisierung der (derzeit ausgedruckten) Protokolle auf Baustellen aus, die mittels digitaler Freigabe bereits jetzt einfach umsetzbar und rechtlich gültig wäre. Dipl.-Ing. Ralf Krüger von der TU Dortmund hielt anschließend seinen Vortrag über Gewerke-Fachmodelle als Bindeglied zwischen Planung und Ausführung. Er sieht BIM als Digitalisierungstreiber und führte die Zuhörer durch den Prozess eines mit Hilfe von BIM und CAD-Technologie geplanten und mittels CNC-gesteuerten Maschinen hergestellten Türrahmens, bei dem kein Verschnitt anfällt. Den Abschluss des Vormittags bildete Jacqueline Peter, MSc von der Universität Duisburg-Essen, die die zukünftigen Auswirkungen der Blockchain-Technologie auf das Bauwesen erörterte. Zu Beginn beschrieb sie mit einer sehr anschaulichen Parabel über einen Weihnachtswunschzettel die Funktionsweise und Vorteile einer Blockchain. Die Anwendungsmöglichkeiten in der Baubranche sieht sie hauptsächlich in Form von smart contracts, bei denen die Blockchain bei Erfüllung von zuvor vereinbarten Projektzielen Zahlungen freischaltet und somit die Rechnungslegung vereinfachen und sicherer machen kann.
Der Nachmittagsblock stand im Zeichen von Mixed Realities. Zum Thema Augmented Reality (AR), die unsere reale Welt um eine digitale Komponente erweitert, sprach zunächst Prof. Ioannis Giannopoulos von der TU Wien. Er gab Auskunft über seine Forschung mit AR und den im Zusammenhang auftretenden Wahrnehmungsproblemen von Tiefe und Distanz. Diese zu beheben erfolgt durch raffinierte Visualisierungen, z.B. können unterirdisch verlaufende Rohre für das menschliche Gehirn gut durch eine Künette wahrgenommen werden, die auf einer AR-Brille auf der Straßenoberfläche virtuell eingefügt wird. Augmented Reality birgt den Vorteil, dass die 3. Dimension nicht erst durch das Gehirn interpretiert werden muss, sondern ihm mittels einen Pseudo-Hologramms buchstäblich vor Augen geführt wird. In die gleiche Kerbe schlug Dipl.-Ing. Harald Urban vom Zentrum digitaler Bauprozesse (ZDB), der den Zuhörern einen Einblick in seine Forschung zu AR für Abnahmen, z.B. für die örtliche Bauaufsicht, gewährte. Das Tool läuft auf einer AR-Brille, die mittels Gesten intuitiv gesteuert werden kann. Der Ansatz ist, dass Menschen mit derlei Technologien leicht umgehen können müssen, damit sie akzeptiert werden und einen Vorteil bringen. Weiter ging es – nach einem kurzen Stromausfall, der zum Glück folgenlos blieb, da der Live-Stream am Laufen gehalten werden konnte – mit Dr. Clemens Arth von der TU Graz, der ebenfalls den Einsatz von AR-Technologie auf Baustellen erforscht. Er setzt verstärkt auf Smartphones oder Tablets anstatt der AR-Brille. Ausschlaggebend für die Technologie sei die inzwischen vorhandene Speicher- und Prozessorleistung der Devices, die Datenverarbeitung in Echtzeit ermöglicht (real time processing). Er warnt vor den gesellschaftlichen Auswirkungen von AR durch die verstärkte Möglichkeit zur genauen Überwachung von Mitarbeitern und sieht die Herausforderung in der Akzeptanz der Technologie.
Der abschließende Block widmete sich dem Thema Kooperative Intelligenz. Er bestand aus einem „Trialog“ zwischen dem Kommunikations-Experten Prof. Mario Patera und Vertretern der Bauwirtschaft. Patera stellte drei theoretische Thesen zur Diskussion, die von den Bauexperten Dipl.-Ing. Robert Schedler (Geschäftsführer FCP) und Dipl.-Ing. Manfred Bauer (Geschäftsführer Hinteregger & Söhne) kommentiert und hinsichtlich ihrer Praktikabilität im beruflichen Alltag beurteilt wurden.
Die Thesen
- „Das Gehirn belohnt Kooperation, ohne Kooperation keine Motivation“
- „Selbstmanagement, speziell emotionale Intelligenz, ist Voraussetzung für die Gestaltung gelingender Kooperation“
- „Neue Führung braucht das Projekt – Kooperative Intelligenz ist insbesondere in Expertenorganisationen wichtig“
konnten im Zuge der Diskussion von den Branchenexperten befürwortet werden. Motivation werde hauptsächlich aus persönlichem Kontakt zu Kollegen und/oder Vorgesetzten geschöpft, das persönliche Wohlbefinden sei auch im Job unentbehrlich, man müsse auch als Führungskraft auf sich selbst schauen, bevor man sich um andere sorgen kann. Durch festgefahrene Regularien und soziale Normen haben Mitarbeiter keine Möglichkeit, für sie notwendige Themen oder gar Probleme offen anzusprechen. Daher zahle es sich aus, mediative Kompetenzen und Selbstfürsorge im Unternehmen zu implementieren. Dies funktioniert laut Robert Schedler bei FCP sehr gut, es werden persönliche Beziehungen und deren Veränderungen in Kooperationsplänen erfasst und zum Start jeder Besprechung „Value Moments“ durch Zentrierung auf Körper und Geist generiert.
In einer parallellaufenden Veranstaltung des Forum Zukunft Bauen führten die Organisatorinnen Dipl.-Ing. Melanie Piskernik und Dipl.-Ing. Karina Schiefer Studierende und junge IngenieurInnen durch den Nachmittag und erörterten gemeinsam mit Branchenvertretern Zukunftsthemen der Bauindustrie, wie zum Beispiel Bilderfassung für Kranfahrer oder Exoskelette für BauarbeiterInnen. Der Tenor der jungen Generation war der Wunsch nach einem neuen, offenen Mindset, das weg von Definitionen geht und – unter Berücksichtigung der persönlichen Arbeit – stets das große Ganze im Blick behält. Es wurde eine Abkehr von Spezial- und Insellösungen gefordert, die nur noch die Ausnahme darstellen und in Zukunft in eine Gesamtlösung integriert werden sollen.
Den Ausklang der Veranstaltung gestaltete Prof. Gerald Goger mit seinen Schlussworten. Er bedankte sich bei den OrganisatorInnen des Kolloquiums Dipl.-Ing. Bettina Chylik, Dr. Leopold Winkler und Prof. Christian Schranz, den Organisatorinnen des Forums Zukunft Bauen, dem Unternehmen Perionlineexperts für die technische Abwicklung sowie bei allen Vortragenden für das gute Gelingen der Veranstaltung. Er kündigte außerdem an, die beim Kolloquium und im Forum besprochenen Themenkomplexe auch verstärkt in die Lehre am Institut für Interdisziplinäres Bauprozessmanagement einzubauen.